Wir sind alle betroffen - sind wir auch Opfer? I Psychologie für Zuhause in Zeiten von Corona

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Das letzte Jahr war ein schwieriges. Immer wieder höre ich, es ist so schrecklich, die ganzen Einschränkungen, wie furchtbar, dass man sich nicht mehr treffen kann. Depressionen und Ängste nehmen zu, Gewalt in der Familie. Unsere Freiheit wird eingeschränkt, wir haben kein normales Leben mehr.

Auch ich leide unter dem Lock-Down. Ich streite jetzt öfter mit meinem Partner, mir fehlt das kulturelle und die Freunde. Mit der Familie und Freunden machen wir seit einiger Zeit Zoom-Kaffeetrinken.

Meine Eltern sind im Krieg aufgewachsen und bei uns gab es keine Aufmerksamkeit für unsere kleinen Kinderkatastrophen, Schmerzen bei aufgeschlagenen Knien, Ängste in der Nacht, Wunsch nach Trost und Gehalten werden. Wer Bombennächte überstanden und Tote wegräumen musste, und sich dabei gefühllos machte, um das Ganze bewältigen zu können, der hat in der Folge keine Wahrnehmung mehr für die kleinen Härten des Lebens. In der Folge haben die Kinder der Kriegsgeneration oft kein gutes Gefühl für sich selbst, für Verletzungen, Gefühle wie Trauer oder Bedürfnisse nach Zärtlichkeit und Geborgenheit. Auch ich musste da nachlernen. Sehr schön hat das Sabine Bode in ihrem Buch „Kriegsenkel“ beschrieben.

Aber im letzten Jahr hatte ich oft das Bedürfnis, wenn Menschen sich über die Einschränkungen beklagt haben, zu sagen: so schlimm ist das ja auch nicht. Natürlich muss ich mich fragen, ob ich da immer noch das Kind meiner Eltern bin. Ich kann mich an ein Interview mit einer alten Frau im Altersheim erinnern, die sagte: Klar, ist das nicht so schön, so alleine zu sein. Aber ich habe den 2. Weltkrieg überlebt, das war schlimmer.

Und irgendwie dachte ich dann: ja, es gibt wirklich Schlimmeres als die Corona-Pandemie in Deutschland zu erleben. Vor allem wenn man sich auf der Weltkugel mal umschaut.
Mir klingt da immer noch ein Artikel von Thomas Fischer im Spiegel im Ohr, er war Vorsitzender des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofes. Er schreibt eigentlich darüber, dass sich jetzt alle – vor allem in der Politik – ständig für alles Mögliche entschuldigen, was nicht gut läuft. Man entschuldigt sich, weil man jemand anderem etwas angetan hat (z.B. zu wenig Impfdosen bestellt hat), das heißt, der andere ist ein Geschädigter, ein Opfer.

Ich habe in den letzten Monaten viel über dieses Opferdasein nachgedacht: auch ich fühle mich gerne als Opfer: wenn ich nach einem langen Arbeitstag noch einkaufen muss und ausgerechnet meine Schlange an der Kasse ist die langsamste…… oder ausgerechnet bei mir sind alle Ampeln immer rot und ich muss ständig anhalten. Gibt es eine Kraft im Universum, die mich ärgern will?
Thomas Fischer geht sogar so weit, das Corona-Jahr zum Jahr des Opfers zu ernennen: Eltern sind überlastet, Großeltern einsam, Kinder unbeschult, Kranke traurig, Gesunde in Kurzarbeit, Unternehmer illiquide, Arbeitnehmer arm, Wirte pleite, ihre Gäste unbefeiert, Hoteliers leer, Hallenbäder trocken, Ärzte schlaflos, Pflegekräfte entkräftet Patienten vertröstet, Lehrer überfordert, Schüler dummgeblieben. Und so weiter.
Fischer empfiehlt sogar, sich am besten mehreren Opfergruppen anzuschließen. Das ist natürlich provokativ und auch lustig. Und ich habe mir überlegt, was die Psychologie zum Thema „Vorteile des Opferdaseins“ zu sagen hat.

Das Dramadreieck der Transaktionsanalyse sagt, es ist eines der „Spiele der Erwachsenen“, das diese spielen, um Zuwendung – auch negative – zu erhalten und um sich die Zeit besser zu strukturieren.
In diesem Dreieck gruppieren sich immer ein Retter, ein Täter und ein Opfer, und das Interessante daran ist, dass die Rollen ständig wechseln. Ich darf nicht mehr zu allen Zeiten überall hin (Opfer) - deswegen muss ich demonstrieren, sodass andere verstehen, dass das nicht o.k. ist und ich zeigen ihnen dann auch, dass man keine Maske braucht (Retter). Dadurch steigere ich aber das Ansteckungsrisiko der anderen (Täter) und bekomme vielleicht eine Anzeige und werde dann wieder zum Opfer. Dann kann ich mich als Opfer der Behördenwillkür fühlen und das Dramadreieck kann von neuem losgehen. Wenn wir wollen, können wir so unser Leben verbringen.

Woher kommt das? Die Opfermentalität wird von unserem Kind-Ich gespeist, also aus Zeiten, in denen ich wirklich keine Kontrolle über mein Leben hatte und mir manchmal auch Böses und Verletzendes angetan worden ist. Manchmal bleiben wir darin stecken oder fallen unter Stress wieder dahin zurück.

Günter Grass hat das in seinem Buch „Die Blechtrommel“ sogar so anschaulich beschrieben, dass die Hauptfigur auch körperlich nicht mehr wächst.

Die einzige Chance, aus dem Opfer-Dasein zu kommen, ist es, unser Erwachsenen-Ich zu aktivieren und in Verantwortung zu gehen für das, wofür ich Verantwortung übernehmen kann. Dabei hilft uns ein Gedicht von Reinhold Niebuhr:

Gott, gib mir die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Bleiben Sie behütet!
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