Corona-Politik: Jens Spahn und die Flucht aus der Verantwortung

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Jens Spahn (CDU), Bundesgesundheitsminister und damit oberster Pandemie-Bekämpfer der Regierung, hat einen bemerkenswerten Satz gesagt: »Wir hätten schon im Oktober bei geringeren Infektionen härtere Maßnahmen ergreifen müssen.« Dies räumte er jüngst in einem Interview mit der »Bild am Sonntag« ein.  Doch was wie ein Schuldeingeständnis klingt, ist gar keins, wie der Rest des Interviews zeigt. Die eigentliche Schuld liegt, so muss man Spahn verstehen, nämlich bei allen. Und damit bei keinem. Es lohnt, sich diese Art der Schein-Entschuldigung genauer anzusehen, denn Spahn ist nicht der Einzige, der sich ihrer bedient. Und das wirft grundsätzliche Fragen auf. Wenn alle Schuld haben, wer trägt dann eigentlich noch politische Verantwortung? Spahn fuhr nach seinem Satz über die Versäumnisse des Oktobers so fort: »Aber ob sich Corona ausbreitet, ist nicht nur eine Sache politischer Entscheidungen, sondern von uns allen. Es braucht entschlossenes staatliches Handeln, aber auch verantwortungsvolles Verhalten jedes Einzelnen. Wir sitzen alle in einem Boot.« »Wir hatten alle zusammen das trügerische Gefühl, dass wir das Virus gut im Griff hätten.«  Jens Spahn  Erst räumt er ein, dass die Bundesregierung und die Landesregierungen hätten handeln können und müssen. Im nächsten Satz relativiert er den politischen Handlungsspielraum, um die Verantwortung am Ende ganz zu verschleiern – alle in einem Boot heißt: Alle sind irgendwie gleich. Es ist wahr, dass die Verbreitung des Virus nicht allein von politischen Entscheidungen abhängt. Aber ob die Schulpflicht ausgesetzt, ob Kitas geschlossen, ob Betreuungstage für Eltern bezahlt, ob Grenzen dichtgemacht, ob die Maskenproduktion forciert, ob Kontaktsperren verhängt werden und ob das Homeoffice verpflichtend ist, entscheidet die Politik, nicht die Masse.  Spahn geht aber noch weiter, als nur die eigene Handlungsfähigkeit zu begrenzen. Er sagt: »Wir hatten alle zusammen das trügerische Gefühl, dass wir das Virus gut im Griff hätten. Die Wucht, mit der Corona zurückkommen könnte, ahnten wir, wollten es aber in großer Mehrheit so nicht wahrhaben.«Es stimmt nicht, dass niemand die Wucht wahrhaben wollte Wenn alle das Virus unterschätzt haben, so die Spahn-Logik, dann hat die Regierung zwar zu spät gehandelt, was mit dazu führte, dass die zweite Welle unnötig groß wurde, dass deshalb Menschen starben – aber dann kann die Regierung nichts dafür, weil sie nur dachte, wie alle dachten.  Das aber ist offensichtlich unwahr. Es stimmt, dass viel die Rede davon war, einen zweiten Lockdown dürfe es nicht geben. Es stimmt nicht, dass alle das trügerische Gefühl hatten, das Virus gut im Griff zu haben. Es stimmt nicht, dass niemand die Wucht des Virus wahrhaben wollte. Etwa ein Drittel der Bevölkerung fand Umfragen zufolge schon im September, die Regierung tue zu wenig. Experten warnten im Sommer, man müsse sich auf den Herbst vorbereiten. Sie warnten im Herbst, man müsse schneller handeln. Politiker mahnten im Oktober,
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